Theodor Scheufele

Elfenbeinturm-Brunnengrotte

Zum Abschied sagte sie wie früher: „Alles Gute – vor allem gesund bleiben. Das ist das Wichtigste!“ Und sie schenkte mir eines ihrer handgeschriebenen Gedichte (ja, sie war auch eine Dichterin, was ich bis dahin nicht gewusst hatte). Das Gedicht bringt jenes Gefühl von Versäumtem, Entbehrtem zum Ausdruck, das wahrscheinlich am Ende selbst des längsten Lebens schmerzt. In ihrem Fall bezog es sich auf Bildung und Wissen. Der Professor damals im Hörsaal II hatte zuviel davon gehabt, sein Versäumtes war etwas anderes gewesen: Nähe zum Sobeschaffensein.

Das Gedicht der Brunnenfrau trägt den Titel: „Zu spät“ 

Meine Sehnsucht war das Lesen,
hatte aber keine Zeit.
Jetzt, in meinen alten Tagen,
ist es endlich doch soweit.

Meine Liebe gilt dem Meere,
jedoch auch der Medizin,
von Sport, Theater ich gern höre,
und lese auch Biographien.

Altertümer, Völkerkunde,
mein Steckenpferd: Geographie –
alles, alles möcht ́ ich wissen,
denn zuviel wird es mir nie.

Gern möcht ́ ich die Schulbank drücken,
was jetzt nimmer geht.
Glaubt mir, daß ich manchmal weine,
weil ́s für mich zu spät.“

 

ISBN: 978-3-9502152-4-3
Kartoniert, 15×21,5 cm, 10 Seiten. (2007)

Elfenbeinturm-Brunnengrotte